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Das Hohelied

Mit Küssen bedeckt mich dein Mund, mein Geliebter;
dein Name ist Salböl, dich lieben die Mädchen.
Ich rieche den Duft deiner köstlichen Salben,
der König führt mich nun in seine Gemächer.
Wir freuen uns deiner, dich liebt man zu Recht.
Doch seht mich nicht an, weil ich dunkel gebräunt bin,
die Söhne der Mutter, sie waren mir böse.
Sie ließen mich Weinberge hüten am Mittag,
den eigenen Weinberg, den konnt ich nicht hüten.
Dich liebt meine Seele, sag mir, wo du lagerst,
wozu soll ich irren herum bei den Herden?

Wenn du das nicht weißt, oh du Schönste der Frauen,
dann folge den Spuren der Schafe und weide
dein Zicklein nicht fern von dem Lager der Hirten.
Der Stute am Wagen des Pharaos gleichst du,
die Wangen so schön und mit Kettchen umschlungen,
dein Hals zwischen Perlen und goldenen Kettchen,
wir machen daran dir noch Kugeln aus Silber.

Die Narde verströmt ihren Duft an der Tafel,
er ruht an der Brust mir wie Myrrhe im Beutel.
Geliebter, wie Henna bist du von En-Gedi.

So schön bist du, Freundin, du bist ja so schön,
die Augen so schön wie die Augen von Tauben.

Mein Liebster ist schön und das Grün unser Lager,
aus Zedern, Zypressen gebaut unser Haus.
Ich bin eine Blume auf Wiesen des Scharon.

Wo Disteln sind, ist meine Freundin die Lilie.
Im Walde ein Apfelbaum, Liebster, bist du.
Will sitzen im Schatten des Freundes und schmecken
die Süße der Früchte mit Zunge und Gaumen.

Er führt mich ins Weinhaus, sein Zeichen heißt Liebe,
er stärkt mich mit Kuchen, erquickt mich mit Äpfeln.
Bin krank nun vor Liebe, es hält mich sein Arm.

Gazellen, als Zeugen beschwöre ich euch:
die Freundin stört nicht, bis sie selber erwacht ist.

Doch hört: mein Geliebter, er springt über Berge,
er hüpft über Hügel gleich einer Gazelle.
Er steht schon am Fenster des Hauses und spricht:

Steh auf, meine Freundin, so komm doch, du Schöne!
Vorbei ist der Winter, verrauscht ist der Regen,
die Blumen ersprießen, der Lenz ist gekommen,
die Stimme der Taube, wir hören sie wieder.
Am Feigenbaum reifen schon wieder die Früchte,
steh auf, meine Freundin, du Schöne, so komm doch!
Du Taube im Felsen, versteckt in der Steilwand,
dein Antlitz mir zeige, lass hören die Stimme,
die Stimme ist süß, dein Gesicht ist so lieblich.

Mein Freund gehört mir, und ich bin nun die Seine,
am Abend komm´ du, mein Geliebter, zu mir.
Du gleichst der Gazelle, dem Hirsch auf den Bergen.
Des Nachts auf dem Lager, da suchte ich ihn,
ich suchte ihn dort, und ich fand ihn dort nicht.
Ich streif durch die Gassen, ich such auf den Plätzen
den liebt meine Seele, ich finde ihn nicht.
Ich fragte die Wächter: habt ihr ihn gesehen?
Doch kaum ging ich weiter, da fand ich ihn endlich.
Ich packte ihn, bracht ihn ins Haus meiner Mutter,
zur Kammer der Mutter, die mich einst geboren.

Dein Haar: eine Herde von Ziegen am Berge,
die Zähne seh´n aus wie geschorene Schafe.
Wie lieblich dein Mund ist, die Lippen zwei Bänder,
zwei Kitzlein die Brüste wie Zwillingsgazellen,
kein Makel, du Schöne, kann man an dir finden.
Verzaubert hat mich ganz der Blick deiner Augen,
wie schön deine Liebe, die süßer als Wein ist.
Die Lippen der Braut sind voll Milch und voll Honig,
der Duft deiner Kleider ist Libanons Duft.
Der Garten der Braut ist verschlossen, versiegelt,
Granatbäume locken mit köstlichen Früchten,
die Quelle des Gartens bist du, meine Freundin.

Erwache nun, Nordwind, erwache nun Südwind,
durchweht meinen Garten, lasst strömen die Düfte.
Geliebter, so komm doch und iss von den Früchten.

Ich komm in den Garten der Braut und ich pflücke
die Myrrhe, den Balsam, trink Wein und die Milch.
So freut euch, ihr Freunde, im Rausche der Liebe.

Es klopft mein Geliebter: mach auf, meine Schwester!
Ich habe mein Kleid doch schon niedergelegt,
die Füße gewaschen, soll ich sie beschmutzen?
Da sah ich die Hand meines Freunds in der Luke,
ergriff schnell den Riegel und öffnete ihm.
Doch er war verschwunden, mir stockte der Atem.
Ihr Töchter Jerusalems, wo soll ich suchen?

Was hat dein Geliebter den andern voraus,
dass du uns beschwörst und so krank bist vor Liebe?

Sein Haupt ist aus Gold, seine Locken sind Rispen,
die Augen wie Tauben am Laufe von Bächen,
die Wangen wie Beete, die Lippen wie Lilien,
die Finger wie Stäbe aus Gold und Geschmeide,
sein Leib wie aus Elfenbein, Schenkel wie Marmor,
erlesen wie Zedern ist seine Gestalt,
sein Mund ist voll Süße, voll Wonne mein Freund.

Wo ist dein Geliebter, du Schönste der Frauen?
Wo ging er nur hin? Lasst gemeinsam uns suchen!

Jerusalem gleich, bist du lieblich, Geliebte,
doch schau mich nicht an, deine Augen verwirren.
Wie Morgenrot ist sie, so schön wie der Mond,
so prächtig wie Sterne, so rein wie die Sonne.
Wende dich, Braut, denn wir woll´n dich betrachten!
Du Edelgeborne, wie schön deine Schritte,
ein Kunstwerk die Hüften, voll Würzwein das Becken,
dein Leib wie ein Hügel, mit Lilien umstellt.
Die Brüste zwei Kitzlein, die Augen wie Teiche,
wie Purpur die Haare, sie fangen den König.
Wie schön und wie reizend, du Liebe voll Wonne,
du gleichst einer Palme, die Brüste wie Trauben.
Ich steig auf die Palme, ich greif nach den Rispen,
dein Atem ist Apfelduft, Wein ist dein Mund.

Nun komm, mein Geliebter, wir schlafen in Dörfern,
und früh woll´n wir dann zu den Weinbergen gehen.
Treibt dort schon der Weinstock,
blüh´n dort schon die Bäume?
Es duften die Äpfel der Liebe für dich nur.
Ach, wärst du mein Bruder, genährt von der Mutter,
dann träf ich dich draußen, ich würde dich küssen.
Ich würde dich bringen ins Haus meiner Mutter,
und niemand darf deshalb die Tochter verachten.
Ich gäbe dir Würzwein, Granatapfelmost,
die Hand meines Liebsten, sie hält meinen Kopf.
So stark wie der Tod sind die Gluten der Liebe,
sie ist nicht zu löschen durch Wasser und Ströme.
Fort, fort, mein Geliebter, gazellengleich fort.